Der Faire Handel hat sehr wichtige Erfolge vorzuweisen. Es sind Erfolge, die für uns nicht sichtbar und nicht messbar sind. Leonardo Duran spricht von Werten, die in unserer Konsumgesellschaft langsam verloren gehen. Ein Interview mit dem Berater der Kleinproduzentenorganisation Union Tosepan Titataniske in Mexiko. von Kleber Cruz

Kleber: Glaubst du, dass der Deutsche Verbraucher eine richtige Vorstellung über die Wirkungen des FH in den Erzeugerländern hat?
Leonardo: Vielleicht ist das durch die Entfernungen schwierig, auch die unterschiedlichen Realitäten machen es schwer. Sie leben nicht hier, dadurch wird eine richtige Wahrnehmung unmöglich. Die Realität ist anders und das ist normal. Dennoch merke ich, dass es ein Irrtum gibt. Einige haben die falsche Vorstellung, dass der FH die Produzenten aus der Armut raus holen wird. Dieser Glaube ist falsch. Sie kaufen Kaffee oder Kakao aus FH und dabei glauben sie, dass der Bauer jede Menge Geld erhält, eine bessere Gesundheitsvorsorge genießt oder ein Auto anschaffen kann. Diese Dinge sind etwas strukturell, sie entsprechen nicht nur einem Markt, sondern auch einen Gesellschaftsmodell, das auch ungerecht ist. Sie spiegeln nicht nur die Marktbedingungen wieder, sondern auch die Lebensbedingungen der Menschen. Ich glaube, das ist eine Illusion oder Phantasie des FH. Ich glaube aber auch, dass es Menschen gibt, die verstanden haben, dass die Lebensbedingungen anders sind, der Kontext ist auch anders.
Kleber: Dann würden wir von zwei unterschiedlichen Wahrnehmungen des FH reden. Zum Einen die Realität, die hier gelebt wird. Zum Anderen die Vorstellungen der Konsumenten über das Leben bzw. die Wirkung des FH in den Erzeugerländern. Wie sind wir zu dieser Situation gekommen?
Leonardo: Zunächst sind es die eigenen Lebensbedingungen, man lebt nicht die Realität des Anderen. Dadurch werden die Situationen unverständlich. Das passiert den Produzenten auch. Sie haben die Vorstellung, dass der FH die Möglichkeit hat, extrem höhere Preise zu zahlen. Das bedeutet, die Realität nicht zu verstehen. Ein anderer Punkt ist die Idee, die Erfolge und die Herausforderung des FH auf eine Preis- oder Geldfrage, auf eine Monetarisierung zu reduzieren.
Kleber: Und welches sind die Erfolge des FH?
Leonardo: …Es gibt etwas Wichtigeres als diese Sichtweise. Der Markt, verstanden als einen Raum für den Tausch von Produkten ist insofern kommerziell. Dort existieren Preis und Wirtschaftsbeziehungen. Aber es geht weiter. Der Markt soll menschlichen Beziehungen ermöglichen. Das schafft fundamentale Veränderungen.
Kleber: In den letzten Monaten gab es in Deutschland sehr kritische Zeitungsartikel. Man findet die Idee des FH gut, aber die Umsetzung ist, durch die Abweichungen der FLO-Kriterien, schlecht. Warum glaubst du, dass die FLO- Kriterien weicher werden, so dass der FH in Frage gestellt wird?
Leonardo: Ich gehe davon aus, dass die Forscher dieser Studien zum Teil Recht haben. Richtig ist, dass wir zum FH in einer Zeit angekommen waren als andere Organisationen schon längst am FH partizipierten. Wir hatten die Vorstellung, dass der FH als etwas anderen entstanden ist, er sollte andere Handelsbeziehungen schaffen. Das war innovativ, kreativ und revolutionär. Wir haben Diskussionen mit anderen Firmen geführt, vor allem mit transnationalen Lebensmittelkonzerne, über den Fairen Handel. Sie betrachteten den FH als eine Dummheit, etwas Verrücktes ohne Zukunft. Der FH würde von alleine zusammenbrechen, dafür würde der Markt sorgen, denn der Markt ist der Markt. Das war das Jahr 2001. Selbst Regierungsbeamten waren dieser Meinung. Jahre später konnte der FH beweisen, dass er eine Möglichkeit darstellt, die Sachen anders zu gestalten. Der FH hat punktuelle Kritik ausgeübt, das war in der Kaffeekrise als die Produzenten unter niedrige Preise litten. Hier war der FH doch ein Instrument, die herkömmlichen Handelspraktiken von den großen Nahrungsmittelindustrie in Frage zu stellen. Ab diesen Zeitpunkt merkte man eine Veränderung bei den Konzernen. Sie nahmen den FH wahr und gingen in das System rein mit voller Kraft. Wir beobachteten, dass die Institutionen des FH wie FLO, die zur Wahrung der Kriterien zuständig waren, ihre Philosophie änderten. Sie haben sich für mehr Kommerz entschieden. FLO hat ihr Verständnis vom FH geändert.
Die Kritiker zum Teil Recht haben. Wir sehen das auch in den Anbauregionen: Die Transnationalen haben immer niedrige Preise bezahlt, sie haben die Bauern ausgebeutet und dürfen nun Kaffee aus FH kaufen. Sie kaufen einige Lots und betreiben „green washing“. Wir sehen, wie Nestlé oder Starbucks agieren. Insofern haben die Kritiker Recht. Dennoch gibt es in den Studien einen Wahrnehmungsfehler.
Kleber: Zum Beispiel behaupten die Studien, dass die FairTrade Produzenten nach 30 Jahre schlechter gestellt sind als Nicht FT-Produzenten. Haben sie Recht?
Leonardo: Möglicherweise argumentieren sie mit Daten und Zahlen, durch Feldarbeit. Ich hoffe es wirklich. Ich hoffe nicht, dass wir von Schreibtischforschung sprechen.
Wir müssen die Realität in ihrer gesamte Komplexität interpretieren, nicht nur in einen konkreten Punkt. Ein erster Wahrnehmungsfehler könnte darin liegen, dass alles aus einer monetären Sichtweise betrachtet wird. Wenn das so ist, dann werden die Forscher mit Sicherheit FT-Produzenten finden, deren Einkommen kaum höher ist als ein Nicht FT-Bauern. Das ist besonders beim Kaffee der Fall, denn die Kaffeepreise sind starken Schwankungen ausgesetzt. Nein, der Unterschied zwischen konventionell und FT ist nicht groß.
Ein wichtiger Punkt muss an dieser Stelle angesprochen werden. Ich weißt nicht, ob die Forscher das auch so gesehen haben: Das Einkommen aus der Landwirtschaft wird für die Bauernfamilie immer unbedeutender. Weltweit gibt es neue Erkenntnisse über den ländlichen Raum. Immer mehr verliert das Einkommen aus der Landwirtschaft für die bäuerliche Familie an Bedeutung. Und immer mehr wird das Einkommen aus anderen Aktivitäten, wie aus Dienstleistungen, für die Familie wichtiger. Das muss auch berücksichtigt werden.
Ein Beispiel hierfür stellt der Kaffeepreis in unserer Genossenschaft dar. Der Preis unterlag starken Schwankungen. Das Preisniveau lag am Anfang der Ernte 2013/2014 bei 19Pesos/Kg Pergamino und kletterte bis 42 Pesos gegen Ende der Saison. Für den konventionell angebauten Kaffee haben wir 30Pesos/Kg bezahlt, den Kaffee aus Bioanbau haben wir für 42Pesos/Kg abgenommen. Der Biobauer konnte den höchsten Preis erzielen oder andres ausgedrückt: Unsere Bauern haben 50% mehr, als der konventionellen Bauer, erhalten. Wird das Einkommen aus dem Kaffee in Verhältnis zu anderen Einkommensarten der Bauernfamilie gesetzt, dann ist es gut möglich, dass Einkünfte aus dem Kaffeeverkauf unbedeutender werden. Die Veränderungen der Lebensbedingungen der FT- Bauern wird nicht berücksichtigt.
Man müsste auch diskutieren, über welche Produzenten reden wir. Sprechen wir von einem Bauern, der in der ganzen Produktionskette nur als Lieferanten eingegliedert ist, dann sucht er den höchsten Preis. Er erwartet aufgrund seiner Armut, den höchsten Preis zu erzielen. Oder reden wir von einem Bauern, der sich organisiert und seine Produkte mit Würde, zu einem fairen Preis, verkauft.
Kleber: Der deutsche Verbraucher soll dich verstehen. In Deutschland messen wir unseren Wohlstand nach wirtschaftlichen Maßstäben. Wenn der deutsche Verbraucher den gleichen Wohlstand (oder Ansätze davon) nicht sieht, dann hat für ihn keine Entwicklung stattgefunden. Besonders ärgerlich ist für ihn, wenn diese „Entwicklung“ bei Organisationen ausbleibt, für deren Produkte er viel Geld bezahlt. Wie kann man ihm verständlich machen, dass wirtschaftlichen Maßstäbe kein Kriterium für den Wohlstand einer Gruppe ist. Oder anders ausgedruckt: Wie kann man den Deutschen diese Vorstellung, die wirtschaftliche Vorstellung des FH, ausreden?
Leonardo: Selbstverständlich wird er enttäuscht sein. Man muss ihm Folgendes klar machen: Wenn er glaubt, dass der FH die Bauern, die unter anderen soziopolitische Bedingungen leben, aus der Armut holen wird, weil der deutsche Verbraucher ein Produkt aus dem FH kauft oder Kaffee aus FH trinkt, dann wird er enttäuscht sein …
Kleber: ….dann wäre diese Erwartung falsch…
Leonardo: … ja falsch …Damit können wir nicht einverstanden sein.
Die Frage, die sich der Verbraucher stellen soll, ist eine ganz andere. Er muss sich fragen, warum kann er sich ein Auto leisten, warum kann er ein Haus mit Heizung bauen und dabei viel mehr Energie verbrauchen als ein kleiner Produzent, von dem er den Kaffee kauft. Dieser Bauer hat kein Auto, verbraucht Holz als Brennmaterial, sein Energieverbrauch ist wesentlich niedriger. Wenn wir diese Frage stellen, werden wir verstehen, dass das Problem strukturell ist. Da lohnt es sich vielleicht einen gewissen Herrn zu lesen, er hieß Karl Marx. Er hat darüber gesprochen, er sagte wir haben ein systemisches Problem. Vielleicht müssten wir mehr leisten, als nur Produkte aus dem FH zu kaufen. Vielleicht müssten wir unseren Konsumgewohnheiten ändern.
Ich glaube der Fair Handel ist eine Möglichkeit, bestimmten Sachen zu hinterfragen und bietet uns die Möglichkeit an, eine andere Art des Zusammenlebens aufzubauen.
Kleber: Du verlangst ein bewusster Verbraucher!
Leonardo: Genau!
Fortsetzung folgt..