Oft stellt uns das Leben vor Situationen, die unsere Existenz zu bedrohen scheinen. Die Menschen haben zwei Möglichkeiten: Entweder resignieren sie und ergeben sich ihrem Schicksal oder sie stellen sich der Herausforderung. Der Verband Tosepan Titataniske entschied sich für die zweite Variante mit Erfolg. Von Kleber Cruz.
300km von der Hauptstadt Mexikos entfernt, in der nördlichen Bergkette des Bundeslandes Puebla, liegt die Stadt Cuetzalan, Sitz der Union Tosepan Titataniske. Dank ihrer Nähe zum Golf von Mexiko beherbergt die Region viele Klimazonen entsprechend vielfältig ist die Biodiversität. Beides bildet die Tragsäule für das Überleben der dort angesiedelten indigenen Bevölkerung der Totonacos und Nahuatles. Ihr Verständnis von Zusammenleben aus Solidarität und Respekt für die Umwelt ermöglichte ihnen nicht nur das Überleben, sondern bescherte ihnen ein Leben in relativem Wohlstand.
Bei der Indigene Bevölkerung um Cuetzalan ist die Selbstversorgung sehr ausgeprägt, dadurch können ihre Grundbedürfnisse weitestgehend befriedigt werden. Der Ankunft des Kaffees als Einkommensquelle beschleunigte die Monetarisierung der menschlichen Beziehungen. Folge dieses Prozess war ein langsamer aber stetiger Verlust der traditionellen Formen des Überlebens. Dennoch ist die Region für das Entwicklungsprogramm der UN eine marginalisierte Zone, die UN Experten halten das monetäre Einkommensniveau um Cuetzalan noch für niedrig.

Die Grüne Revolution der 70er war ein wichtiger Moment in der Geschichte der Einheimischen. Der Staat führte einen Plan nach diesem Entwicklungsmodell durch, das unter anderem die Vergabe von Krediten, die landwirtschaftliche Beratung und die Verteilung von Pestiziden vorsah. Ähnlich wie in anderen Teile der Erde entsprach der Aktivismus des Staates nicht unbedingt den Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerung. Die Antwort der Indigenen auf diese staatlichen Vorhaben blieb äußerst überschaubar. Die landwirtschaftlichen Berater – meistens Soziologen – konnten sich nicht erklären worauf diese Gleichgültigkeit oder Mangel an Interesse basierte. Tatsache ist, dass die Grüne Revolution der Logik einer Steigerung der Produktion und Steigerung des Verkaufsvolumens folgte.
Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit sollte durch dieses Model erreicht werden. Es waren Ziele, die in krassem Widerspruch zu den Bedürfnissen der Bauern standen, deren Logik und Sichtweise simpel aber deutlich war: „Ihr wollt dass wir die Produktion steigern, dass wir Kredite beantragen. Aber unsere Erfahrung lehrt uns, wenn ein Produkt in Übermaß produktziert wird, geht der Preis in der Keller. Und wenn das so ist, wie sollen wir die Kredite zurückzahlen. Und dennoch müssen wir Lebensmittel teuer kaufen und unsere Produkte billig verkaufen“.
Dieses Denken, einfach und pragmatisch, zusammen mit der Notwendigkeit ihrer Probleme eine Lösung zu finden, war die Keimzelle für die Entstehung der Genossenschaft Tosepan Titataniske. Es mussten besseren Preise für Lebensmittel des täglichen Bedarfs organisiert werden. Es musste in anderen Städten nach vorteilhaften Einkaufskonditionen gesucht werden, denn in der Region kontrollierten die Kaziquen das politische und wirtschaftliche Leben. Diese „Landfürsten“ erzwangen ihrer Preise sowohl für den Einkauf als auf für den Verkauf von Produkten. Diese Not brachte auch die Lösung, eine Gruppe von Bauern fuhr mehrmals nach Puebla oder in die Hauptstadt Mexikos immer auf der Suche nach optimalen Bedingungen für die Anschaffung von lebensnotwendigen Nahrungsmittel. Und siehe da: Sie waren erfolgreich und erreichten eine Ersparnis bis zu 50%. Sie gründeten eine Konsumgenossenschaft. Das war ein Schlag ins Gesicht für die örtlichen Kaziquen.
Selbstbewusster durch dieses Erfolgserlebnis unternahmen die Bauern die nächsten Abenteuer: Die gemeinsame Vermarktung von Pfeffer. Kaffee war für sie erst mal kein Thema. Zu dieser Zeit war der Kaffeesektor fest in staatlichen Händen durch die IMECAFE (Mexikanisches Kaffeeinstitut). Der Staat garantierte Beschaffung, Vermarktung, Beratung und täuschte durch diese Intervention eine gewisse Stabilität vor, denn als der Staat sich aus der Kaffeewirtschaft in den 90er Jahren zurückzog, bracht der Sektor zusammen. Schutz- und orientierungslos blieben die Kaffeebauern zurück.
Es war wieder diese Notlage, diese Orientierungslosigkeit, dieses Gefühl, dem Schicksal ausgeliefert zu sein, welches die Menschen zwang, eine einfache und klare Antwort auf ihre Lage zu suchen. Und diese Bauern haben sie auch gefunden: Die gemeinsame Vermarktung des Kaffees. Das war die Geburtsstunde der Kaffeegenossenschaft. Nach diese zwei Erfahrungen kam etwas, was für mich vielleicht der wichtigste Schritt der Gruppe war: die Erkenntnis darüber, dass sie und nur sie die eigene Zukunft gestalten müssen. Die Straßen oder Wege waren entweder schlecht oder es gab keine. Die Bauern bildeten einen „Wegeausschuss“, dessen einzige Aufgabe es war, die Überschüsse aus der Vermarktung für die Anschaffung und den Bau von Straßen zu verwenden. Das zementierte die Überzeugung, dass die Befriedigung der Bedürfnisse und die Gestaltung eines besseren Lebens durch ihr eigenes und gemeinsames Agieren gelöst werden können. So schaltete sich die Organisation in andere lebenswichtige Bereiche ein, wo Mangel und eine prekäre Lage herrschte: Gesundheit, Bildung und Kreditwesen und schaffte dazu eine zusätzliche Einkommensquelle durch eine Tourismuskooperative. Heute ist die Organisation Tosepan Titataniske ein Verband von 8 Genossenschaften, die wirtschaftlich und rechtlich unabhängig voneinander agieren. An diesen Verbund oder diese Union – wie die Mitglieder ihren Dachverband nennen – sind 25.000 Mitglieder angeschlossen … oder anders ausgedrückt: Die Union befriedigt die Bedürfnisse von über 100.000 Menschen.

Aber welches sind die Lehren aus diesen Erfahrungen? Für die Mitglieder der Organisation fällt die Antwort relativ leicht: keine Abhängigkeit von einem Produkt und keine Abhängigkeit von externen Akteuren. Das bedeutet Diversifizierung der Produktion (nicht nur Kaffee) und die Bildung der eigenen Führungskräfte. Momentan durchläuft die Union einen Reifeprozess. Als Organisation hat sie verstanden, Antworten auf die Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu geben. Nicht nur auf solche Bedürfnisse, die in den Entwicklungsprogrammen der Vereinigten Nationen katalogisiert sind. Sondern und vor allem gab die Union eine Antwort in Richtung Stärkung des Selbstvertrauens, des Selbstbewusstsein, der eigenen Identität, sie hat die Chancen der Partizipation demokratisiert. Die sind wahrscheinlich die wichtigsten Erfolge der Organisation in ihren 37 Jahre.
Allerdings ist nicht alles frei von Problemen. Das gleiche System, das die Menschheit bedroht, scheint die Existenzgrundlage der Mitglieder vernichten zu wollen. Der maßlose Ausbau und die Suche nach neuen natürlichen Ressourcen bedroht die Lebensader der Region, die Umwelt. Dazu kommt die soziale Lage in Mexiko, wo der Staat sich in einem Implosionprozess befindet. Die Grenzen zwischen Politikern und Kriminalität sind fast verschwunden. In Cuetzalan haben sich große Bergbauunternehmen, Ölgesellschaften und Stromerzeuger niedergelassen. In den Bergen von Puebla sind 160.000 ha für den Bergbau freigegeben worden, hier entstehen die Flüsse. In den mittleren Ebenen plant man mehr als 10 Projekten zu Energieerzeugung, und in der niedrigen Ebene hat die Förderung von Öl durch Fracking begonnen. Landesweit sind 2mio ha involviert, darunter auch Cuetzalan.
Die Notlage ist wieder da, die Antwort von der Union steht noch aus …
Köln, 08.11.2014